Außereuropäische Regionalwissenschaftler sehen sich seit den neunziger
Jahren zunehmend mit der Bitte konfrontiert, möglichst knapp zu erklären,
warum "der Islam" so gewaltbereit sei. Das gilt auch und gerade wenn
sie sich mit den vom Islam geprägten Regionen zwischen Nordafrika und Südostasien
befassen. An Stichworten mangelt es dabei bekanntlich nicht, Saddam Hussain
und Usama bin Laden sind nur die bekanntesten. Fällt die Antwort zu kompliziert
aus, werden griffigere Formulierungen zitiert wie jene von Samuel Huntington.
Er sagte den "Konflikt der Kulturen" voraus, der in seiner deutschen
Variante zum "Krieg " (Bassam Tibi) dramatisiert wurde. Diese spezielle
Form der Kulturalisierung globaler Konflikte ist sicherlich die größte
Herausforderung an die sich zunehmend kulturwissenschaftlich definierenden Regionalwissenschaften(1)
. Ähnliches gilt für die nicht-islamischen Regionen(2).
Bevor ich im folgenden näher auf die inhaltlichen und
methodischen Konsequenzen dieser Ausgangslage eingehe, möchte ich den Begriff
der Regionalwissenschaften problematisieren und die daraus resultierenden strukturellen
Herausforderungen ansprechen.
Die Genese der Regionalwissenschaften als eigenständige Fächer
läßt sich historisch aus den Ursprüngen der Beschäftigung
mit anderen, vor allem außereuropäischen Kulturen erklären.
Nach religionshistorischen und sprachwissenschaftlichen Anfängen gab es
im Zeitalter des Imperialismus wie auch während der Periode der Ost-West
Konfrontation ein politisches Interesse an interdisziplinären Forschergruppen,
welche die Entwicklungen in bestimmten Regionen verfolgen sollten. Als institutionelle
Konsequenz finden sich in Deutschland, aber auch in Großbritannien oder
den USA oft Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinien, die sich beispielsweise
mit dem Nahen Osten beschäftigen, bei den Islamwissenschaftlern wieder.
De facto wurde Islamwissenschaft so zunehmend zur Regionalwissenschaft für
den Nahen Osten (mit Ausnahme Israels), trotz der religiösen Vielfalt dieser
Region und der weit über sie hinausreichenden Verbreitung des Islams.
Die den Regionalwissenschaften zugeordneten Wissenschaftler befinden sich oft
in einem Spannungsfeld zwischen ihrer regionalen Spezialisierung, die in der
Regel mit Ausnahme gewisser philologischer Kenntnisse keine eigene Methodik
aufweist, und ihrer methodischen und theoretischen Verortung. Dies variiert
von Fach zu Fach: Anthropologen haben sich überhaupt erst in jüngerer
Zeit auf Europa zurückbesonnen. Die Beschäftigung mit außereuropäischen
Fragestellungen ist im Rahmen dieses Faches üblich und folglich fällt
die Forschung über Indien oder Angola sozusagen in seinen Kernbereich.
Anders verhält es sich in den Literaturwissenschaften oder in der Geschichte:
Hans Ulrich Wehlers Hinweis, es gebe in Deutschland keine Nahosthistoriker(3),
hat vor allem damit zu tun, daß hierzulande die historischen Fachbereiche
überwiegend mit Deutschland-, gelegentlich noch mit Europa-Historikern
besetzt sind. Die Außereuropa-Historiker wandern deshalb nolens volens
in die Regionalwissenschaften oder ins Ausland ab, wo sie von ihren Historikerkollegen
kaum noch wahrgenommen werden. Geschichte ist hier nur eins von mehreren möglichen
Beispielen.
Trotz solcher Probleme bietet die regionale Organisation auch praktische Vorteile:
Vom Spracherwerb über die Spezialbibliothek bis hin zu aktuellen Themen
lassen sich durch die Bündelung der Regionalinteressenten Synergieeffekte
erzielen. Das gilt insbesondere für die Regionen Afrika und Asien, die
nicht Gegenstand der täglichen Debatte sind. Diese Vorteile werden im Vergleich
mit Kollegen an kleineren US-amerikanischen Universitäten deutlich, die
dort oft in die entsprechenden Fachdisziplinen integriert sind und meist als
einzige im weiten Umkreis über eine bestimmte Region arbeiten.
Der Zusammenschluß von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen befördert
ferner die so regelmäßig geforderte Interdisziplinarität in
den Geisteswissenschaften. So hat beispielsweise der cultural turn, das Hinterfragen
tradierter Kategorien und die Betonung der Dialektik von Bedeutungssystemen
und Praxis, viele Außereuropa-Historiker aufgrund ihrer engen Beziehungen
zur Anthropologie eher erreicht als ihre über Europa arbeitenden Kollegen.
Eine zentrale strukturelle Herausforderung an Regionalwissenschaftler
besteht folglich darin, den Dialog mit den Fachdisziplinen zu suchen, selbst
wenn sich diese gelegentlich sperren. Dabei haben die Regionalwissenschaftler
mit den aus der interdisziplinären Arbeit gewonnenen Erkenntnissen interessante
Anregungen im Hinblick auf Methodenpluralismus und Konzepte anzubieten. Ebenso
müssen aber neuere methodische und theoretische Debatten der Fachdisziplinen
regelmäßiger als bislang wieder in die Regionalwissenschaften hineingetragen
werden.(4)
Eine der naheliegendsten Möglichkeiten, einen solch vertieften
Fachdialog zu beleben, ist der transkulturelle Vergleich, der über
die dialogische Funktion hinaus zentral zur Selbstreflektion der Beteiligten
beiträgt.(5) Es sei hier nur kurz darauf
hingewiesen, daß ein solcher Vergleich nicht nur zwischen Wissenschaftlern
notwendig ist, die über Europa und das nichtwestliche "Außereuropa"
forschen. Auch jene, die sich mit Indien, dem Nahen Osten, Japan oder Südostasien
befassen, sollten ihn untereinander führen. Denn auch hier haben sich regional
spezifische Diskurse entwickelt, die erst durch eine komparative Perspektive
erkannt und entsprechend erweitert oder präzisiert werden können.
Nicht verwechselt werden sollte dies mit der transkulturellen Beziehungsgeschichte,
die einen weiteren wichtigen Schritt für einen solchen Dialog darstellt.
Wie fruchtbar die Kombination beider Ansätze sein kann, hat gerade jüngst
eine Studie gezeigt, die Nahosthistoriker mit indischen Kollegen zusammengebracht
hat.(6) Die Struktur des Zentrum Moderner
Orient (ZMO), an dem Vertreter verschiedener Fachrichtungen und regionaler Spezialisierungen
forschen und arbeiten, erleichtert derartige Ansätze.
Trotz der methodischen Probleme und der Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten
kann eine vergleichende Perspektive wesentlich dazu beitragen, den Problemhorizont
der zumeist regional oder national orientierten Forschung zu erweitern. Dies
ist gerade in Zeiten der rapide voranschreitenden interkontinentalen Vernetzung
und der wachsenden Zweifel an der Universalität normativer Verbindlichkeiten
ein dringendes Desiderat.(7) Ein immer noch
ebenso drängendes wie umstrittenes Kernthema derartiger Vergleiche ist
dabei die Frage nach der Moderne beziehungsweise den Modernen. Gerade hier wird
aber auch die Schwierigkeit der transkulturellen Verständigung deutlich.
Gibt es, wie gerade in Abgrenzung gegen "den Islam" immer wieder behauptet
wird, nur eine "Moderne", nämlich die aufklärerisch-westliche?
Oder lassen sich andere Spielarten von Moderne ausfindig machen, etwa in den
industrialisierten Regionen Ostasiens? Und inwieweit kann man auch im Nahen
Osten von einer - islamisch geprägten - Moderne sprechen? Gegner einer
solchen Auffassung, die in allen islamischen Tendenzen eher eine Anti-Moderne
vermuten, führen in diesem Zusammenhang gerne das ehemalige afghanische
Talibanregime an, ohne die Vielzahl islamischer Positionen zu würdigen.
Gerade die Moderne-Diskussion zeigt, daß Vergleiche - egal auf welcher
Ebene - eine grundsätzliche Verständigung darüber erfordern,
inwieweit verschiedene Kulturen überhaupt vergleichbar sind. So wichtig
die Kritik am Orientalismus als Herrschaftswissen gerade für die
kritische Reflektion der Asien- und Afrikawissenschaften war, so hat sie doch,
im Verbund mit bestimmten Tendenzen des Postkolonialismus, auch die Entstehung
eines neuen kulturellen Essentialismus begünstigt. Kulturelle Identitäten
und Alteritäten, seien sie ethnischer, religiöser oder geschlechtsspezifischer
Art, wurden häufig verabsolutiert. In Extremfällen bestritt man Außenstehenden
die Möglichkeit, über die entsprechenden Gruppen sinnvolle Aussagen
zu treffen. Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik hat gerade in der
anglo-amerikanischen Anthropologie die Darstellungsformen stark verändert,
ohne das Problem der Forschung in transkulturellen Zusammenhängen dadurch
grundsätzlich zu lösen.
Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, inwieweit es eine transkulturelle
Begrifflichkeit geben kann, mit der sich Sozial- und Kulturwissenschaftler über
die von ihnen behandelten Phänomene verständigen können. Es ist
bezeichnend, daß auf kürzlich veranstalteten Tagung Philosophen,
Linguisten, Soziologen, Orientalisten und andere keine Einigung über dieses
Problem erzielen konnten.
Die Reflexion solch grundsätzlicher Fragen transkultureller Verständigung
und interkultureller Kommunikation ist eine dauerhafte Herausforderung an die
Regionalwissenschaften. Hier sollte man intensiver als bisher mit der Linguistik
kooperieren.
Die meisten Regionalwissenschaftler gehen jedoch - meist implizit - davon aus,
daß es in der einen oder anderen Form Verständigungsmöglichkeiten
über andere Kulturen gibt. Sie können dafür anführen, daß
das westliche Analysevokabular in der Auseinandersetzung mit den entsprechenden
lokalen Realitäten gebildet beziehungsweise an sie angepaßt wurde.
Auch umgekehrt hatten afrikanische und asiatische Intellektuelle lange Zeit
wenig Scheu, sich ihrerseits mit westlichem Gedankengut auseinanderzusetzen
und dies auch sprachlich an ihre Bedürfnisse zu adaptieren.(8)
Allerdings sind perspektivische Differenzen zwischen Innen-
und Außensichten zu erwarten.
Dennoch wird inzwischen nicht nur verstärkte Selbstreflexivität, sondern
vor allem das "Forschen mit" jenen gefordert, deren Gesellschaften
das Interesse der Regionalwissenschaftler finden.(9) Aus
dem "einheimischen Informanten", der Quellen oder nützliche Hintergrundinformationen
liefert, soll ein gleichberechtigter Partner bei der Entwicklung und Bearbeitung
der wissenschaftlichen Fragen werden. Man hofft, daß dadurch nicht nur
Vokabular und Inhalte der Untersuchungen einer kritischeren Beurteilung unterworfen
werden, sondern vor allem, daß das von den Orientalismuskritikern angegriffene
Definitionsmonopol westlicher Wissenschaftler beendet wird. Schließlich
hat diese de facto definitorische Hegemonie weit über das Ende der Kolonialzeit
hinaus gewirkt.(10) Mittelfristig,
und zur Entwicklung wirklich transkultureller Begrifflichkeiten ist ein darüber
hinausgehender "Polylog"(11) erforderlich, der Wissenschaftler
einer Disziplin zusammenbringt, die über verschiedene Regionen forschen.
Ohne diese forschungspolitische Forderung in Frage stellen zu wollen, sei hier
kurz auf einige praktische Schwierigkeiten hingewiesen. Zum einen treffen in
vielen Fällen sehr unterschiedliche Wissenskulturen aufeinander. Dies bereichert,
erfordert jedoch oft grundsätzliche Selbstreflexion. Zum anderen, und dies
ist in der Praxis oft etwas problematischer, ist die Lage der Geisteswissenschaften
in Asien und Afrika in vielen Fällen desolat. Der libanesische Historiker
Wajih Kawtharani beispielsweise schreibt über den Nahen Osten, daß
die arabischen Geistes- und Sozialwissenschaftler aufgrund der zumeist autoritären
Regierungssysteme und der vorherrschenden Zensur anders als ihre westlichen
Kollegen von der politischen Sphäre ausgeschlossen seien.(12)
Dies schaffe wenig Anreize zur intellektuellen Diskussion
und sei dem Sozialprestige der Fächer höchst abträglich. Zudem
seien die Methoden oft unkritisch aus dem Westen übernommen und an die
lokalen Gegenbenheiten nur ungenügend angepaßt. All dies resultiere
in deskriptiven, wenig innovativen Publikationen, sofern die Wissenschaftler
nicht ohnehin ihre wissenschaftliche Arbeit einstellten. Kawtharani verweist
auch auf die materiellen Umstände der Universitäten und vieler nahöstlicher
Geisteswissenschaftler. Diese hat in vielen Teilen Afrikas zu einem regelrechten
brain drain geführt. Die verbleibenden Kollegen, die ebenso wie im Nahen
Osten häufig noch mit vielerlei politischen Problemen konfrontiert sind,
wandern oft in die Politik oder Consultancies ab, um ein Auskommen zu finden.
Hieraus ergeben sich auch bei bestem Willen aller Beteiligten immer wieder
erhebliche Herausforderungen in der konkreten "Forschung mit" - von
der oft schwierigen Suche nach gemeinsamen theoretischen Prämissen hin
zur heiklen Frage, wie unter solchen Umständen mit politisch sensiblen
Themen umzugehen ist, die es für Historiker ebenso gibt wie für Soziologen.
Die offene Analyse solcher Probleme wird allzu häufig vermieden, geht es
doch um die Thematisierung von internationalen Ungleichheiten und Problemen,
die für alle Seiten unangenehm, in manchen Fällen brisant sind. Die
am ZMO gegebene Möglichkeit, auch längere Gastwissenschaftleraufenthalte
zwecks der Durchführung gemeinsamer Forschungsunternehmen zu organisieren,
sowie langfristige Forschungsaufenthalte der ZMO-Mitarbeiter in der Region stellen
ein unschätzbares Instrument der Kooperation dar.
Lassen Sie mich abschließend noch auf zwei zentrale thematische Herausforderungen
eingehen. Diese ergeben sich meines Erachtens ebenso aus der bisherigen Diskussion
wie aus den anfänglichen Beobachtungen, welche die populäre Nachfrage
nach regionalwissenschaftlichen Erkenntnissen etwas zugespitzt formulierten.
Die erste Herausforderung ist eine Folge der Kulturalisierung weltpolitischer
Konstellationen. Ich hatte schon auf die Untersuchung der Beziehungen zwischen
Kulturen - die in sich sehr heterogene Gebilde sind - im Zusammenhang mit dem
disziplinären Dialog hingewiesen. Diese stellt meines Erachtens ein unentbehrliches
Korrektiv gegen alle Tendenzen dar, kulturelle Grenzen überzubewerten.(13)
Mit Kulturbeziehungen ist deutlich mehr gemeint als die relativ
gut erforschte Geschichte der internationalen Beziehungen, selbst in ihrer geistes-,
kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Erweiterung. Translokale Bewegungen und
Beziehungen fanden nicht nur auf der Ebene von Kriegen, Diplomaten, Studentenmissionen
und Handelsaustausch statt. Zu denken ist auch an die vielfältigen Kontakte
durch Arbeitsmigration und Sklaverei, an religiöse Netzwerke, die kulturelle,
nationale und regionale Grenzen überspannen, an Handelsdiasporen oder an
die internationalen Crews von Supertankern und osteuropäische Prostituierte
in der Golfregion.(14) Nun kann es nicht
um eine additive Bestandsaufnahme solcher Kontakte gehen. Vielmehr muß
gefragt werden, inwieweit die Bewegungen von Menschen tatsächlich Beziehungen
etablieren und was diese kulturell bedeuten. Es ist einfach, vom Kosmopolitanismus
der Hafenstädte zu sprechen - wesentlich schwieriger ist es, diesen in
seinem historischen Wandel zu erfassen.(15) Umgekehrt
bilden sich in Kontaktzonen neue Identitäten, die geschichtsmächtig
werden können. Die in den letzten Jahren viel gefeierte "Hybridität"
ist insofern eine, wenn auch keineswegs die einzige oder dominante Folge solcher
Kontakte. Hier ist gerade angesichts der globalen Dimensionen solcher Fragestellungen
ein Gespür für präzise Mikrogeschichte notwendig, das häufig
auch bei einer historischen Orientierung die Offenheit für anthropologische
Vorgehensweisen erfordert.
Eine solche Beziehungsgeschichte kann und soll die Existenz kultureller Grenzen
weder leugnen noch aufheben.(16) Aber sie
kann dazu beitragen, die vielen Bereiche, in denen sich kulturelle Praktiken
und Identitäten überlappen, sowie die vielfältigen Verbindungslinien
zwischen Kulturen zu zeigen. Das Forschungsprogramm des ZMO untersucht anhand
verschiedener Einzelfallstudien translokale Beziehungen in ihrem Wandel. Damit
historisiert es Prozesse kultureller Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen.
Die zweite thematische Herausforderung schließt an die erste an. Wie diese
setzt sie an den Rändern an, allerdings diesmal nicht an kulturellen Grenzen,
sondern an den Verwerfungen des Globalisierungsprozesses.(17)
Die dadurch verursachten Brüche und Krisen, die Gewinner
und Verlierer dieser Entwicklung sind ein wichtiges Thema des Aspekts regionalwissenschaftlicher
Forschung, der sich mit dem Thema "Moderne" befaßt. Lange Zeit
standen die modernisierenden Kräfte im Vordergrund. Inzwischen zeichnet
sich ein wachsendes Interesse an den Verlierern und Gegnern dieser Prozesse
ab. Dies läßt sich vordergründig durchaus mit der Zunahme gewaltsamer
Auseinandersetzungen erklären. Allerdings nimmt es auch ältere wissenschaftliche
Ansätze wie etwa Fragestellungen der subaltern studies auf.(18)
Regionalwissenschaftliche Grundlagenforschung, selbst wenn
sie nicht politik-, sondern kulturwissenschaftlich orientiert ist, reagiert
auf aktuelle Fragestellungen. Oft ist sie ihnen sogar voraus.(19)
Auch hier gilt, was vor einiger Zeit generell über den
Normalfall der heutigen Forschung gesagt wurde: "Das Besondere an der Grundlagenforschung
ist nicht länger ihre Abgrenzung gegenüber der Anwendung, sondern
ihre Unabhängigkeit von direkten Verwertungsinteressen".(20)
Griffige Formeln allerdings, dies hoffe ich gezeigt zu haben,
lassen sich auch in Zukunft nicht erwarten - eher wohl deren Dekonstruktion
und das Angebot komplexer Erklärungsmuster. Diese in geeigneter Form zu
vermitteln und damit zu einer kulturellen "Übersetzung" beizutragen
und gefährlichen anti-aufklärerischen Impulsen entgegenzuwirken, das
ist die wichtigste und schwierigste Herausforderung an die Regionalwissenschaften.
Ihre politische Bedeutung läßt sich kaum überschätzen.
© Ulrike Freitag, Berlin, 5.12.2002
***
(1) Zum umfassenden inhaltlichen Verständnis von Kulturwissenschaft
in historischer Perspektive vgl. Rudolf Vierhaus, "Dimensionen einer Historischen
Kulturwissenschaft", in A. Lubinski, T. Rudert & M. Schattkowsky, Historie
und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997,
S. 129-138.
(2) Z. B. im Fall von Ruanda, vgl. Thomass Assheuer, "Piraten
der neuen Welt", Die Zeit 27.9.2001.
(3) Interview mit Ralph Bollmann, taz 10.9.2002. Zu dem Problem
s.a. Andreas Eckert, "Gefangen in der Alten Welt", Die Zeit 26.9.2002.
(4) Für die Nahostwissenschaften vgl. Rashid Khalidi, "Is
there a future for Middle East Studies", MESA Bulletin 29 (1995), S. 1-6.
(5) Dazu grundlegend Heinz-Gerhard Haupt & Jürgen Kocka,
"Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung",
in diess (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international
vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt etc. 1996, S. 9-47, Jürgen
Osterhammel, "Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft",
ibid., S. 271-313, für einen Anwendungsvorschlag vgl. Asef Bayat, "Studying
Middle Eastern Societies, Imperatives and Modalities of Thinking Comparatively",
in MESA Bulletin 35 (2001), S. 151-158.
(6) Leila Fawaz & Chris Bayly (Hrsg.), Culture and Modernity,
Cambridge etc. 2002.
(7) Jürgen Osterhammel, "Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich",
GuG 22 (1996), S. 143-164.
(8) Ein Beispiel hierfür ist die arabische nahda im 19.
Jahrhundert.
(9) Z.B. Michael Lackner & Michael Werner (Hrsg.), Der cultural
turn in den Humanwissenschaften. Area Studies im Auf- oder Abwind des Kulturalismus?
Bad Homburg, Werner-Reimers Stiftung [Suchprozesse für innovative Fragestellungen
in der Wissenschaft, Bd. 2] 1999.
(10) Dies erscheint mir über Said's ursprüngliche
Aussagen hinweg ein wichtiger Aspekt auch der weiteren Debatte. Vgl. dazu ausführlicher
Ulrike Freitag, "The Critique of Orientalism". In: Michael Bentley
(Hrsg.), Companion to Historiography. New York etc. 1997, S. 620-638.
(11) Michael Lackner & Michael Werner (Hrsg.), Der cultural
turn in den Humanwissenschaften, S. 59f.
(12) Wajih Kawtharani, "al-Bahth wa-l-bahith wa-l-mu'assasa
al-akadimiyya, ishkaliyyat al-mawqiþ wa-l-dawr li-l-'ulum al-insan wa-l-mujtama'",
in: A. Hoteit & M. Makhzoum (Hrsg.), Mélanges historiques en hommage
à Mounir Ismail, Beirut 2002, S. 313-334.
(13) Aus der umfangreichen Literatur hierzu vgl. beispielsweise
Akhil Gupta & James Ferguson, "Beyond 'Culture': Space, identity, and
the Politics of Difference", Cultural Anthropology 7;1 (1992), S. 6-23.
(14) Dazu grundsätzlich Jürgen Osterhammel, "Transnationale
Gesellschaftsgeschichte", GuG 27 (2001), S. 464-479, s.a. Achim von Oppen,
"Einleitung", DFG-Antrag des ZMO, Juni 2002.
(15) Hierbei ist z.B. an den Kontrast zwischen Izmir und Singapur
zu denken! Zu Izmir vgl. Daniel Goffman, "Izmir: from village to colonial
port city". In E. Eldem, D. Goffman, Daniel & B. Masters (Hrsg.): The
Ottoman City Between East and West, Cambridge etc. 1999, S. 79-134.
(16) Zur Frage kultureller Grenzen vgl. Jürgen Osterhammel,
"Kulturelle Grenzen in historischer Perspektive", in Ernst Ulrich
v. Weizsäcker (Hrsg.), Grenzen-los? Berlin etc. 1997, S. 213-227.
(17) In seiner vom Westen geprägten Form läßt
sich dieser ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgen.
(18) Hier wäre z.B. an die Subaltern Studies zu denken,
Für deren Fruchtbarkeit in Bezug auf den Nahen Osten vgl. Sabra J. Webber,
"Middle East Studies & Subaltern Studies", MESA Bulletin 31 (1997),
S. 11-16, kritischer zu dem Projekt Vinay Bahl, "Situation and Rethinking
Subaltern Studies for Writing Working-Class History", in A. Dirlik, V.
Bahl & P. Gran, History After the Three Worlds, Lanham etc. 2000, S. 85-124
mit ausführlichen Literaturangaben.
(19) Hier wäre beispielsweise an den Globalisierungsschwerpunkt
des ZMO zwischen 1996 und 2000 zu denken, bevor dieses Thema in seiner historischen
Dimension so deutlich erkannt wurde wie heute.
(20) Jürgen Mittelstraß, "Zukunft Forschung.
Perspektiven der Hochschulforschung in einer Leonardo-Welt", Essener Hochschulblätter,
Essen 1990, S. 15-41, hier S. 32.