, Viadrina-Universität Frankfurt/Oder
Das Projekt verbindet eine Analyse der Konstruktionen von Geschlechterrollen
innerhalb der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs mit
einer Diskussion zu Geschlechterkonzeptionen in islamisch geprägten
Kontexten. Es geht primär um die vielfach diskutierte Frage,
ob und inwieweit liberale und demokratische Öffentlichkeiten
Europas spezifisch „europäische“ bzw. „deutsche“
Islamversionen generieren. Entgegen dieser These könnten
die in muslimischen Organisationen zirkulierenden Geschlechterdiskurse
auch auf transnationale Verbindungen und Kontinuitäten von
islamischen Traditionen im europäischen Migrationskontext
hindeuten.
Auf einer ersten Ebene beleuchtet das Projekt bedeutende historische
Hintergründe. Dabei werden insbesondere die Positionierungen
muslimischer lokaler Akteure zu den Kolonialmächten im 19.
Jahrhundert thematisiert. In jener Zeit ist das Spannungsfeld
angelegt zwischen öffentlicher Sichtbarkeit muslimischer
Frauen und der Rückbesinnung auf ein islamisch geprägtes
Rollenverständnis. Auf diese Weise wird versucht, gegenwärtige
Konstruktionen muslimischer Geschlechterrollen im organisierten
sunnitischen Islam Deutschlands in eine islamische Diskurstradition
einzubetten.
Auf der zweiten Ebene wird anhand von qualitativen Interviews
und Feldbeobachtungen untersucht, welche Konzeptionen von Geschlechterrollen
in der Islamischen Gemeinde Milli Görüs gegenwärtig
diskursiv zirkulieren und welche religiös-sozialen Praktiken
sich damit verbinden. Hier ist auch die Auswertung veröffentlichter
bzw. semi-öffentlicher Schriften und anderer Publikationsformen
wie Internetseiten, Video- und Audiokassetten, etc. der Organisation
vorgesehen, die im Hinblick auf Geschlechterfragen diskursanalytisch
bearbeitet werden sollen. Folgende Fragen werden im Mittelpunkt
stehen: An welchen lokalen oder globalen religiösen, möglicherweise
aber auch säkularen Autoritäten orientieren sich die
Diskurse und Praktiken? Inwiefern weisen sie auf transnationale
Diskurszirkulationen hin? Welche Positionen nehmen die Frauen
innerhalb der Organisation, aber auch innerhalb eines transnationalen
Beziehungsgeflechtes der Bewegungen ein?
Das Projekt geht davon aus, dass sich neue Vergesellschaftungsformen
des Islam in Europa in einem wechselseitigen Prozess zwischen
Muslimen und „Aufnahmegesellschaften“ herausbilden.
Auf der dritten Ebene werden daher die in der Milli Görüs
zirkulierenden gender-Diskurse gezielter innerhalb der deutschen
Öffentlichkeit verortet. Hier wird zu untersuchen sein, mit
welchen Strategien sich Akteure in einem öffentlichen Diskursfeld
positionieren, das ihnen tendenziell die Vereinbarkeit mit den
normativen Grundlagen der deutschen Gesellschaft abspricht.
Das Projekt wird das Forschungsfeld in vielerlei Hinsicht ergänzen.
Einerseits bemüht es sich darum, selten hergestellte historische
Bezüge und Analogien zur heutigen Situation von Muslimen
in Europa zu ermitteln. Auf diese Weise versucht es, muslimische
Lebensformen in europäischen Kontexten nicht einseitig als
migrationsbedingtes Phänomen zu betrachten, sondern eher
als Fortsetzung einer Problematik, die man als Konfrontation zwischen
modernen Rationalitäten und islamischen Diskurstraditionen
betrachten könnte. Andererseits bettet das Projekt gegenwärtige
Diskurse und Praktiken europäischer Muslime gezielt in eine
transnationale Perspektive ein und versucht auf diese Weise, europäischen
Ausprägungen des Islam ihren Nischencharakter zu nehmen.
Während bisherige Untersuchungen in erster Linie individuelle
Handlungsstrategien muslimischer Frauen ins Blickfeld gerückt
haben, soll sich dieses Projekt auf kollektive und organisierte
Formen des Islam in Deutschland konzentrieren. In diesem Rahmen
werden zudem auch männliche Akteure nach ihrem Rollenverständnis
befragt. Erst dieser komplementäre Blick ermöglicht
es, der bislang kaum geklärten Frage nach der Legitimität
und Autorisierung bestimmter, vor allem reformorientierter Geschlechterkonzeptionen
innerhalb des islamischen Gemeindelebens in Deutschland nachzugehen.
Schließlich versucht die Untersuchung konsequent, die „Binnenperspektive“
auf muslimische Minderheiten mit einem Blick auf die normativen
Prämissen der Mehrheitsgesellschaft zu verbinden und somit
die geläufige Forderung nach einer einseitigen Anpassung
an geltende Normen zu hinterfragen. Damit könnte die Studie
dazu beitragen, dominante Diskurse vor allem über islamische
Geschlechterkonstruktionen zu hinterfragen, wonach Konfliktpotentiale
voreilig als Resultat einer Islamisierung junger Muslime gedeutet
werden.
Schirin Amir-Moazami
Dr. Schirin Amir-Moazami studierte in Frankfurt/Main, Marseille,
Berlin und Paris Soziologie und Politikwissenschaften. 2004 schloss
sie ihre Promotion am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz
ab. Anschließend lehrte sie an der Europa-Universität
Viadrina und an der Humboldt-Universität Berlin. Zu ihren
Forschungsinteressen zählen islamische Bewegungen in Europa,
Religionspolitiken, Öffentlichkeitstheorien und Geschlechterfragen.
Ihre vergleichende Studie über die Kopftuchproblematik in
Deutschland und Frankreich wird im Frühjahr 2007 bei transcript/Bielefeld
unter dem Titel Politisierte Religion. Der Kopftuchstreit in Deutschland
und Frankreich erscheinen.
Veröffentlichungen:
Amir-Moazami, Schirin: Politisierte Religion: Der Kopftuchstreit
in Deutschland und Frankreich. Bielefeld: transcript 2006.
Amir-Moazami, Schirin : Lebendig begraben. Multikulturalismus
in Deutschland. In: inamo 46 (2006), S. 17-19.
Amir-Moazami, Schirin: Muslim Challenges to the Secular Consensus.
A German Case Study. In: Journal of Contemporary European Studies,
Jg. 13, Nr. 3 (2005), S. 267-286.
Dr. Schirin Amir-Moazami
Europa-Universität Viadrina
Große Scharrnstraße 59
15230 Frankfurt (Oder)
Tel. 0335-55342646
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