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Die Kraft des moralischen Beispiels der Gesellschaftsentwurf
der islamischen Missionsbewegung Tablighi Jama`at in Indien und Pakistan
Dietrich Reetz
Das Projekt untersuchte die Weltsicht der islamischen Missionsbewegung
Tablighi Jama'at in Indien und Pakistan. Sie wendet sich hauptsächlich
an Muslime, um sie in der Glaubensausübung zu stärken. Dazu
schickt sie Wanderprediger aus. Diese laden zum Gebet in die örtliche
Moschee ein, wo die Vorteile einer religiösen Lebensweise erläutert
und neue Wanderprediger geworben werden. Die Bewegung entstand 1926
in Indien und zählt heute zu den größten islamischen
Bewegungen der Welt. Ihre Jahresversammlungen in Südasien ziehen
jeweils über eine Million Teilnehmer an. Die Untersuchung stützte
sich auf qualitative Interviews in ausgewählten Kontexten zweier
Universitäten in Indien und Pakistan sowie der jeweiligen Jahresversammlung
in Bhopal und Ra'ewind. Zusätzlich wurde neuere Literatur der Bewegung
in Urdu herangezogen. Aufgabe war es, über die bisherigen Untersuchungen
in der wissenschaftlichen Literatur hinauszugehen, die sich hauptsächlich
auf die hagiographische Literatur beschränkten. Es sollte eine
Innenansicht der Bewegung gezeichnet werden, die sich bisher analytischer
Beobachtung weitgehend verschlossen hatte. Daher handelt es sich in
dieser Richtung um einen Anfang, der weiter ausbaufähig erscheint.
Die Auswertung erfolgte in mehreren Vorträgen und Konferenzbeiträgen
sowie in Fachaufsätzen, die 2004 in Druck gehen. Geplant ist auch
eine Maonographie.
Die Erkenntnisse lassen sich im Wesentlichen zu vier Themenkomplexen
zusammenfassen.
Zur (1) Doktrin und Praxis der Bewegung gelang es, ein differenzierteres
Bild ihrer Verortung zu verzeichnen. Sie strebt danach, ein puristisches
Islamverständnis, vor allem auf der Basis der Prophetentraditionen
durchzusetzen. Gleichzeitig nutzt sie ihre Wurzeln im sufisch beeinflussten
Volksglauben, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Als besonderen
Neuigkeitswert des Projektes muss man die Erkenntnisse zum (2) inneren
Organisationsaufbau und zum täglichen Ablauf ansehen. Hier zeichnet
sich ein eher überraschendes Bild einer rigiden inoffiziellen Kontroll-
und Herrschaftsstruktur ab. Diese widerspricht deutlich dem propagierten
Selbstverständnis einer egalitären und improvisierenden Laienbewegung.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei den Kernmitgliedern zu, die je
nach Umfeld etwa 10 bis 25 Prozent der Anhänger ausmachen. Sie
sind erheblich für den organisatorischen Zusammenhalt und die ideologische
Durchdringung der Bewegung verantwortlich. Entscheidungen werden nach
dem islamischen Ratsprinzip getroffen, wobei die Meinung der älteren
und erfahrenen Mitglieder dominiert und hierarchisch umgesetzt wird.
Das Engagement in der Bewegung erfordert vor allem von den Aktiven einen
enormen Zeitaufwand, der an linke Mobilisierungsstrategien erinnert.
Aussagen zum (3) politischen Gewicht der Bewegung lassen sich weiterhin
nur als Näherungswert treffen. Es scheint nicht richtig, sie direkt
für islamischen Extremismus verantwortlich zu machen. Zugleich
ist die von ihr als Massenbewegung betriebene religiöse Ausrichtung
der Muslime eine nicht zu vernachlässigende politische Variable.
Während sie sich von islamisch begründeter Gewalt distanziert,
verwehrt sie den Anhängern militanter Organisationen aber nicht
den Zutritt zu ihren Aktivitäten. In den Prozess politischer Wahlen
scheint sie sich nicht aktiv einzuschalten, obwohl lokale Politiker
zunehmend versuchen, ihr hohes öffentliches Ansehen für sich
auszunutzen. Im Bereich des (4) Sozialverhaltens sind deutlich die Folgen
hohen inneren sozialen Drucks spürbar. Die Mitglieder werden angehalten,
den Vorstellungen eines islamisch normgerechten Verhaltens zu entsprechen.
Als Vorbild dienen die Prophetentraditionen, die z.T. bis ins Detail
kopiert werden. Aber auch spezifisch südasiatische Einflüsse
in Kleidung, Verhalten usw. sind erkennbar. Anhänger durchlaufen
einen Transformationsprozess, indem sie und ihre Familie sich von Bildern,
Kino, Fernsehen usw. entfernen, die religiös argumentierte Geschlechtertrennung
beachten und sich "traditionell" kleiden, d.h. dezidiert nicht-westlich.
So navigiert die Bewegung zwischen aktivistischer Erweckungsbewegung,
sektenähnlichem Netzwerk und kontemplativer Weltabgewandtheit.
Projektpublikationen
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