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Weltkriege und Weltsichten. Arabische Wahrnehmungen des Ersten und
des Zweiten Weltkrieges
Im Mittelpunkt des Projekt Weltkriege und Weltsichten. Arabische Wahrnehmungen
des Ersten und Zweiten Weltkrieges standen Untersuchungen zu Wahrnehmungen
und Deutungen der beiden Weltkriege durch arabische Weltkriegskombattanten
und zivile Beobachter. Während im Mittelpunkt von Teilprojekt 1
(Kriegsbilder. Erlebnisse und Erfahrungen arabischer Teilnehmer am Ersten
und Zweiten Weltkrieg) die Erfahrungen und Wahrnehmungen von Akteuren
standen, konzentrierte sich Teilprojekt 2 (Weltsichten. Der Erste und
Zweite Weltkrieg als historische [Zäsur-] Erfahrungen arabischer
Intellektueller) auf die Deutungen von Intellektuellen. Angesichts einer
bisher stark europazentrierten Wirkungsgeschichtsschreibung der beiden
Weltkriege war es ein wesentliches Ziel des Projekts, die Wirkungen
des Ersten und Zweiten Weltkrieges auf das kulturelle und intellektuelle
Leben in arabischen Gesellschaften in den Blick zu nehmen und zu versuchen,
die Bedeutung von Kriegserfahrungen und -wahrnehmungen für die
Entstehung und Entwicklung von arabischen Selbst- und Weltsichten zu
ermitteln. Die Forschungen des Projekts stützten sich auf die Auswertung
schriftlicher Quellen wie zeitgenössische Zeitschriften, Archivmaterial
und Autobiographien sowie mündlicher Interviews mit Zeitzeugen.
Das Projekt konnte herausarbeiten, dass die Wahrnehmung der beiden
Weltkriege sowohl unter beteiligten arabischen Kombattanten als auch
im arabischen intellektuellen Diskurs einen erheblichen Deutungs- und
Orientierungsbedarf und langfristig wirksame Denkmotive in ihrer historischen
und politischen Interpretation hervorgebracht hat. Dies betrifft nicht
nur den Kontext der regionalen Entwicklung, sondern schließt davon
geprägte Deutungen der gesamten Weltgeschichte und Weltpolitik
des 20. Jahrhunderts ein.
Teilprojekt 1: Kriegsbilder. Erlebnisse
und Erfahrungen arabischer Teilnehmer am Ersten und am Zweiten Weltkrieg
(Katharina Lange)
Die vielfältigen, multiperspektivischen Erfahrungen arabischer
Weltkriegskombattanten zeigen, dass der Einsatz von Kombattanten aus
dem arabischen Osten in beiden Weltkriegen nicht bzw. nicht nur politischen
Überlegungen und Zielen folgte: neben der unfreiwilligen Rekrutierung
vor allem zur Osmanischen Armee im Ersten Weltkrieg wurden sie durch
wirtschaftliche Überlegungen, familiengeschichtliche Zusammenhänge
und tribale Loyalitäten, aber auch existenzielle Notlagen zur Kriegsteilnahme
bewogen. Auch ihre Handlungen und Verhaltensweisen, die von freiwilligem,
aktivem Engagement beispielsweise aus politischen Gründen über
heimliche oder offene Zuwiderhandlungen gegen militärische Befehle
und indirekte Verweigerung beispielsweise durch simulierte Krankheiten
oder selbstzugefügte Verletzungen bis zu Desertion oder Frontwechsel
reichten, reagierten auf individuell unterschiedliche Erlebnisse und
Handlungsspielräume. Im Rückblick wird die aktive Teilnahme
an einem der beiden Weltkriege bzw. der Dienst in einer der beteiligten
Armeen in vielen Erinnerungen und autobiographischen Schilderungen in
einem politischen Zusammenhang dargestellt.
Aus heutiger Sicht wird, so lassen es sowohl mündliche Äußerungen
als auch Publikationen vermuten, das Zeitalter der Weltkriege in erster
Linie mit der Phase der europäischen Kolonisierung bzw. den europäischen
Mandatsverwaltungen im Orient assoziiert. Das vorherrschende Deutungsmuster,
das sich in den meisten Darstellungen zu Kriegserfahrungen arabischer
Kombattanten erkennen lässt, ist ein dualer Gegensatz: auf der
einen Seite steht der „patriotische“ Einsatz für die
„eigenen“, „arabischen“ Interessen, insbesondere
für die Unabhängigkeit der arabischen Staaten; auf der anderen
steht die kolonialistische Intervention fremder Mächte (sowohl
der Osmanen als auch der europäischen Kriegsparteien in beiden
Weltkriegen), die während der Weltkriegsära den arabischen
Osten für ihre Ziele zu benutzen suchten. Die Zeit des Zweiten,
aber auch des Ersten Weltkriegs, so zeigte sich im Verlauf der Forschung
in vielen Gesprächen nicht nur mit Zeitzeugen, sondern auch mit
Angehörigen jüngerer Generationen in Syrien und Jordanien,
wird im arabischen Osten heute vielfach nicht als abgeschlossene historische
Phase, sondern in direktem Bezug zur Gegenwart gesehen. Ereignisse aus
dieser Zeit sind zum einen von unmittelbarer Brisanz für heutige
politische Konstellationen, aber auch für den Status und das Prestige
heute lebender Personen und Gruppen. Die Grundkonstellation konkurrierender
„westlicher“ Mächte, die jeweils eigene strategische
und politische Interessen verfolgen, in denen die arabische Welt nur
als Spielball, nicht aber als gleichberechtigter Partner dient, ist
ein Muster, nach dem sowohl die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts
als auch die heutige Weltpolitik, insbesondere in ihren Auswirkungen
auf den Vorderen Orient, erklärt werden (können).
Teilprojekt 2: Weltsichten. Der Erste und
der Zweite Weltkrieg als historische (Zäsur-) Erfahrung arabischer
Intellektueller (Lutz Rogler)
Im Rahmen des im April 2004 am Zentrum Moderner Orient begonnenen
Projekts „Weltkriege und Weltsichten. Arabische Wahrnehmungen
des Ersten und Zweiten Weltkrieges“ untersuchte das Teilprojekt
„Weltsichten. Der Erste und Zweite Weltkrieg als historische (Zäsur-)
Erfahrung arabischer Intellektueller“ Wahrnehmungen und Deutungen
der beiden Weltkriege durch arabische Intellektuelle sowie deren Relevanz
für die Gestaltung und Entwicklung ihrer Selbst- und Weltsichten.
Es standen also spezifische und weitergehende kulturelle und intellektuelle
Wirkungen der beiden Weltkriege im Mittelpunkt der Forschung.
Im Teilprojekt konnte deutlich herausarbeitet werden, dass die Wahrnehmung
der beiden Weltkriege auch im arabischen intellektuellen Diskurs weit
über politische Kommentare hinaus einen erheblichen Deutungs- und
Orientierungsbedarf namentlich im Hinblick auf die widersprüchlichen
Tendenzen der Moderne und der geschichtlichen Prozesse in der Welt (insbesondere
in Europa) einerseits und die Bestimmung der eigenen politischen und
kulturellen Identität andererseits hervorgerufen hat. Die Untersuchung
stützte sich vorrangig auf in Ägypten zwischen 1914 und 1950
erschienene Kulturzeitschriften, in denen sich insbesondere Publizisten,
Historiker, Philosophen und Religionsgelehrte äußerten. Im
Hinblick auf eine wesentliche Fragestellung des Projekts ließ
sich grundsätzlich feststellen, wie deutlich von ihnen die beiden
Weltkriege als die gesamte Menschheit betreffende, d.h. weltgeschichtliche
Zäsuren gedeutet und thematisiert wurden. Insbesondere der Erste
Weltkrieg wurde als „Krise der menschlichen Zivilisation“
wahrgenommen – ein Denkmotiv, von dem – nicht zuletzt im
Zusammenhang mit einer Rezeption zivilisationskritischer bzw. kulturpessimistischer
Nachkriegsdiskurse aus Europa – auch in der Zwischenkriegszeit
die intellektuelle Diskussion über philosophische und ethische
Grundlagen von „Fortschritt“, „Zivilisation“,
„Weltfrieden“ sowie zu den destruktiven Potenzen von Wissenschaft
und Technik geprägt war und das auch in kritische Sichten der europäischen
bzw. „westlichen“ Zivilisation und zuweilen in islamisch-apologetische
Selbstsichten einfloss. Zugleich erwiesen sich die beiden Weltkriege
als Hintergrund, Anlass bzw. verstärkender Faktor für Tendenzen
eines ausgesprochen „universalistischen“ Denkens, welche
die Gedanken des „Weltfriedens“, einer „internationalen
Demokratie“, einer weltweiten „Schicksalsgemeinschaft“
etc. bis hin zu Vorstellungen einer „Weltgesellschaft“ thematisierten.
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