Konkurrierende Wissensformen in Kirgisien: die Debatte zwischen Generationen um die Weidewirtschaft
Dr. Jeanne Féaux de la Croix
Dieses Projekt geht mithilfe ethnographischer und historischer Methoden der Frage nach, wie verschiedene Generationen in Kirgisien konkurrierende Wissensformen um die Weidewirtschaft schaffen, vermitteln und nutzen. Wie gehen Akteure mit sowjetischer Agrarwissenschaft, nomadischer „Tradition“ und Ideen von Nachhaltigkeit um? Fragen der Weidewirtschaft sind in Kirgisien besonders wichtig, weil sich hier die nationale Identität (die trotz einer multiethnischen Bevölkerung als weitgehend ethnisch kirgisisch definiert wird) auf die Idee des Nomadentum stützt und ein Großteil der ländlichen Bevölkerung Viehzucht betreibt. Die weit auseinanderklaffenden Einschätzungen der Weidequalität, die Weidenutzer eher positiv, staatliche und internationale Hilfsorganisationen aber als sehr mangelhaft bewerten, geben Aufschluss darüber, welche Wissensformen sich durchsetzen und die Weidewirtschaft beeinflussen. In einer Situation, in der die politische und wirtschaftliche Zukunft Kirgisiens sehr umstritten und prekär ist, untersuche ich, wie Akteure Ideen einer guten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung bestimmen und aushandeln. Da Entscheidungsträger aus Institutionen des Staates und der Entwicklungshilfe oft jünger sind als die Viehzüchter, die sie beeinflussen wollen, stellt sich die Frage, was den Generationenunterschied ausmacht und wie ältere Viehzüchter mit diesen jungen Akteuren und ihren Anliegen umgehen.
Obwohl die demografische Krise Europas großes Interesse am Thema Alter und Generationenkonflikt geweckt hat, stützen sich bisherige Studien hauptsächlich auf europäische und amerikanische Kontexte. Eine Untersuchung des Alterungsprozesses in Zentralasien trägt dazu bei, ein größeres Vergleichsfeld alternativer Formen der Alters- und Wissensdiskurse zu erschließen.
Das postsowjetische Kirgisien ist dafür ein besonders interessantes Feld, weil hier eine gebildete ländliche Bevölkerung mit einem lange bestehenden staatlichen Interesse an Agrarreformen zusammengeht, während die politischen und wissenschaftlichen Systeme, die Agrarreformen voranzutreiben suchen, sich scharf unterscheiden. Die Sowjetunion bot lange Zeit eine alternative Version der Moderne an, eine Moderne die in Kirgisien heute oft als zweite „Tradition“ betrachtet wird. Dieses Projekt untersucht, inwieweit zeitgenössische Wissenspraktiken von dieser Erfahrung geprägt sind.
Darüber hinaus werden translokale Netzwerke der Wissensherstellung angesprochen, die zentralasiatische Akteure immer intensiver nutzen. Wie verbreiten, verlagern und verändern sich Normen, Fähigkeiten und Ideen? Im kirgisischen Kontext werden diese Prozesse von breiten Migrationsbewegungen (sowohl zwischen Stadt und Land, wie auch ins Ausland) beeinflusst sowie von internationalen Organisationen, die Nachhaltigkeit und Wissenstransfer fördern wollen. Das laufende Projekt nutzt eine konkrete Problemstellung, um die Interaktion zwischen wissenschaftlichem, politischem und Alltagswissen zu beleuchten. Da Konflikte im Umgang mit Weidewirtschaft und Ökologie sich nicht nur auf Kirgisien beschränken, bietet die Untersuchung aufschlussreiche Parallelen und Unterschiede zu ähnlichen Debatten im Mittleren Osten, Nord- und Ostafrika wie auch Europa.
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