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Europäisch sein in den spätosmanischen Hafenstädten Ein sozio-kultureller Transformationsprozess in politisch umkämpftem Terrain

Dr. Malte Fuhrmann

Die so genannte Verwestlichung oder Europäisierung des Osmanischen Reichs (1838-1908) wird meist politologisch oder soziologisch, als Adaptation neuer Verwaltungs- und Regierungsprinzipien oder Veränderung der Sozialstrukturen diskutiert. Im Vordergrund stehen Fragen nach Fremdbestimmung oder Autochthonie des Adaptationsprozesses, Vitalität der alten und neuen politischen Institutionen, sowie Besonderheiten und integrierende und desintegrierende Aspekte der neuen sozialen Schichten. Diese Studie soll die vorangegangenen Diskussionen durch eine neue Dimension ergänzen, indem mittels einer Kombination aus Sozialgeschichte und Diskursanalyse die Bedeutung ‚Europas’ in Normen, sozialen Praktiken und politischen Auseinandersetzungen der urbanen Bevölkerung im späten Osmanischen Reich untersucht wird.
Ausgangsthese ist, dass ‚Europa’ nicht nur ein Ideal der reformorientierten Bürokratie oder einen Zugang zu materiellen Vorteilen für den Handel bedeutete. Vielmehr stellte Europa ein wichtiges „kulturelles Kapital“ dar. Der Zugang zu beziehungsweise Ausschluss von diesem Kapital spielte eine wichtige Rolle sowohl in den internationalen als auch in den innerosmanischen Rivalitäten um Macht, Anerkennung und materiellen Status. Entsprechend drehten sich zahlreiche Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Zu- oder Aberkennung des europäischen Charakters für bestimmte Personen, Gruppen, Praktiken und Räume. Eine wichtige Rolle in diesen Auseinandersetzungen nahmen ortsansässige und durchreisende Personen mit unmittelbarer Herkunft aus jenen Ländern ein, die zu den politisch, militärisch, wirtschaftlich, intellektuell und kulturell erfolgreichen Staaten West- und Mitteleuropas gerechnet wurden. Sie dienten als unmittelbares Vorbild und Anknüpfungspunkt fürs „Europäisch sein“, jedoch in späteren Krisenzeiten auch zunehmend als negatives Exempel, um die symbolische und praktische Dominanz Europas zurückzuweisen.
Die Bedeutung des Europa-Diskurses im Alltag lässt sich nur im Rahmen der scheinbar konkret erfahrbaren Räume der Stadt rekonstruieren. Die Untersuchung beschränkt sich auf drei Städte, in denen aufgrund ihrer politisch-wirtschaftlichen Bedeutung, Lage und Bevölkerung ‚Europa’ eine wichtige Rolle in Normen und Praktiken einnahm: Saloniki, Izmir und Istanbul.