Öffentliche Debatten im transkulturellen Raum: Die Vorstellungen vom Islam als politische Ordnung zu Beginn des Kalten Krieges
Dr. Bettina Gräf
Es ist nicht nur so, dass der Islam im neuzeitlichen europäischen Denken eine viel diskutierte, umstrittene und imaginär aufgeladene Größe bildet. Umgekehrt spielt der Terminus Westen (al-gharb), bis zum Ende des II. Weltkrieges hauptsächlich ein Synonym für Europa, seit Ende des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in arabischsprachigen Debatten und muslimischen Imaginationswelten, sei es als Quelle von Rationalismus, Wissenschaft, Technologie und Positivismus, als Hoffnung auf ein besseres Leben und eine neue Zukunft, als ambivalentes politisches Vorbild an dem sich nationale und islamische Bewegungen gemessen haben oder als nichtmuslimisches Feindesland (dar al-harb), Region der Unwissenheit (jahiliyya) und des Unglaubens
(kufr).
Relativ gut erforscht sind Debatten unter arabischsprachigen Intellektuellen und Aktivisten zu den Themen Islam und Moderne, Moderne und Authentizität sowie Islamismus und Säkularismus seit den 1970er Jahren, die Zeit des sogenannten islamischen Erwachens (sahwa islamiyya). Viel weniger Beachtung gefunden hat ein Zeitabschnitt, der für das Verständnis heutiger Selbstwahrnehmungen, Zukunftserwartungen und Europabilder in arabischsprachigen Regionen von mindestens ebenso großer Bedeutung ist: die Zeit zu Beginn des Kalten Krieges. Hierbei geht es um die Auseinandersetzungen arabischsprachiger Autoren aus dem Umfeld der Azhar-Universität in Kairo sowie der ägyptischen Muslimbrüder mit Ideologien und politischen Bewegungen, die im Europa der 1950er und 1960er Jahre bestimmend waren bzw. mit europäischen Vorstellungen vom Staat und Staatstheorien in dieser Zeit.
Die fortschrittsgläubigen 1950er bis 1960er Jahren – die Periode, der sich das Teilprojekt zuwendet – waren eine Zeit der Formierung des Ostblocks gegen den Westen und der westeuropäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Europa als zusammenhängender Kommunikations- und Imaginationsraum wird durch die Blockbildung im Kalten Krieg zerrissen. Gleichzeitig war es die Ära Nassers, des Projekts des arabischen Sozialismus und der massiven Unterdrückung islamischer politischer Bestrebungen in Ägypten und darüber hinaus. Welche Rolle, so die Fragestellung des Projekts, spielen europäische Ideologien des Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus bzw. europäische Staaten der verschiedenen Lager (Sozialismus versus Kapitalismus) bei der Formulierung des Islam als eigenständige politische Ordnung und Alternative zu diesen Gesellschaftsentwürfen?
Das Projekt wird einen Beitrag zur Erforschung medienvermittelter und transkultureller Kommunikation zwischen Europa und dem Nahen Osten leisten, indem es nicht nur bestimmten Debatten und Interpretationen von Ereignissen in arabischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften nachgeht, sondern auch die politischen und ökonomischen Produktionsbedingungen dieser Medien sowie deren Verschränkung mit anderen lokalen, nationalen und transregionalen Medien (Presse, Bücher, Radio) untersucht.
Als Quellen der textanalytischen und medientheoretisch orientierten Untersuchung, die durch halbstandardisierte Interviews mit Zeitzeugen ergänzt werden soll, dienen die Zeitschriften Majallat al-Azhar, Minbar al-Islam, ar-Risala, Risalat al-Islam sowie die von den Muslimbrüdern betriebene Tageszeitung al-Ikhwan al-Muslimun, die Wochenzeitung al-Ikhwan und die Zeitschrift ash-Shihab. Intellektuelle und Gelehrte, deren Schreiben und Wirken in diesen Publikationen im Fokus des Teilprojekts stehen sind die Ägypter Muhammad al-Bahi, Muhammad Abu Zahra, ‘Abdallah Daras sowie der Syrer und langjährige Führer der syrischen Muslimbrüder Mustafa as-Siba‘i (zum Teil studierten sie in Europa, wie al-Bahi und Daras). Eine Liste der für die Untersuchung wichtigen Autoren soll zunächst anhand der autobiographischen Arbeit von Yusuf al-Qaradawi zusammengestellt werden, dessen intellektueller Werdegang in den 1950er Jahren einsetzt und von ihm detailreich beschrieben wird.
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