Erinnerungspolitik im ländlichen Syrien: Stammesgeschichte(n) der Welde
Dr. Katharina Lange
Vereinheitlichende Geschichtsdarstellungen, bei denen arabischer Nationalismus und die nationale Einheit Syriens im Vordergrund standen, haben seit dem Ende der Kolonialzeit die syrische Geschichtsschreibung dominiert. Potenziell 'spaltende' Aspekte wie ethnische oder konfessionelle Besonderheiten, tribale oder lokale Bezüge spielen zwar eine signifikante Rolle in Alltagsdiskursen und innenpolitischen Kalkulationen, sind aus den 'offiziellen' Geschichtsnarrativen jedoch lange Zeit ausgeklammert worden.
Hinter diesen vereinheitlichenden Diskursen lassen sich allerdings andere, partikularistische Geschichtserzählungen erkennen. Von der arabischen Bevölkerung des Euphrattals wird die Vergangenheit oft aus der Perspektive der tribalen Gruppe (aschira) erzählt. Diese Gegend hat im 20. Jahrhundert einschneidende Veränderungen in bezug auf Wirtschaftsweise, politische Struktur und Siedlungsgeographie erfahren, die sich unmittelbar auf den Alltag der Bevölkerung ausgewirkt haben. Exemplarisch spiegeln sich hier viele Aspekte des rapiden Wandels wider, der sich in weiten Teilen der arabischen Welt im 20. Jh. vollzogen hat.
In diesem Kontext werden in den letzten Jahren mündliche Geschichtserzählungen durch schriftliche Versionen 'lokaler' oder 'Stammes'geschichte durch schriftliche Darstellungen ergänzt. Mündliche Erzählungen, Veröffentlichungen syrischer Autoren und ältere Schriften europäischer Reisender werden als Quellen für diese neuen Geschichtsdarstellungen herangezogen; die übergeordneten Narrative des arabischen oder syrischen Nationalismus und des anti-kolonialen Kampfes werden als strukturgebender Rahmen für sie herangezogen.
In Fortsetzung eines früheren, am SFB 586 'Integration und Differenz' an den Universitäten Leipzig und Halle unter Leitung von Dr. Annegret Nippa durchgeführten Projekts, untersucht Katharina Lange die mehrstimmige Produktion historischen Wissens (zu der die Präsenz der Ethnographin selbst beiträgt). Gegenstand des Projekts sind lokale Geschichtserzählungen, Erinnerungen und die narrative Konstruktion sozialer Zugehörigkeit der tribalen Gruppe der 'Welde'. Tribale Identität gilt dabei nicht als gegebene Größe, sondern als ein möglicher Bezug für die Konstruktion sozialer Zugehörigkeit.
Mit Hilfe einer Kombination von ethnologischen und historischen Methoden soll analysiert werden, wie durch Erzählungen über 'die Geschichte der Welde' lokale Ordnungen (re)produziert und ausgedrückt werden. Wie erzählen die Akteure selbst 'ihre' Geschichte – und wie wird diese von Außenseitern dargestellt? Welche Themen, welche Bezüge werden hervorgehoben, welche treten in den Hintergrund? Und schließlich: wie verorten die Geschichtserzählungen 'die Welde' in der Gegenwart? |