Was ist “Reform”? Muslimische Reformbewegungen im subsaharischen Afrika im Kontext gegenwärtiger Modernisierungsprozesse
Prof. Dr. Roman Loimaier
Im 20. Jahrhundert hatten die muslimischen Gesellschaften Afrikas eine Vielzahl von Herausforderungen zu meistern: europäischer Kolonialismus und die Entwicklung säkularer Nationalstaaten, Urbanisierung und die soziale Transformation der Gesellschaften des subsaharischen Afrika. Diese Prozesse des sozialen, ökonomischen und politischen Wandels haben aber auch neue Räume und Ebenen für soziale Aktivitäten und soziale Organisation geschaffen. Nationale und internationale Bemühungen haben eine breite Verbesserung der Bildungsstandards und eine Explosion der Textproduktion für lokale Konsumenten ermöglicht. Die Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben zudem die Ausbreitung neuer Medien (vor allem Radio, Kassetten und das Internet) mit sich gebracht und „globale“ Dispute in lokale Diskussionskontexte eingebracht. Oft werden diese Prozesse der Modernisierung von Muslimen als „Verwestlichung“ ihrer Gesellschaften kritisiert. In Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen der Moderne haben muslimische Gelehrte aber auch Antworten formuliert und die Religion in gewandelten gesellschaftlichen Kontexten neu zu verortet. Muslimische Gelehrte und Intellektuelle unterschiedlicher Richtungen haben dabei nicht nur mit Abwehr und Selbstisolation reagiert (wie im Falle der Gemeinschaft von Madina Gounass in Senegal), oder Formen radikaler und aktivistischer Opposition gegen die Modernisierung und „Verwestlichung“ ihrer Gesellschaften entwickelt, muslimische Reformbewegungen haben auch Aspekte der Moderne aufgenommen und in ihre Reformbemühungen integriert. Sie haben insbesondere Bildungsprogramme für muslimische Frauen und neue Schulen entwickelt, sie haben sich für neue Formen muslimischer Freizeitgestaltung (Sport, Pfadfinder, Ferienlager) engagiert und sie zu „islamischen Freizeitprogrammen“ weiterentwickelt. Muslimische Reformer haben so in den letzten Jahrzehnten erheblich zur Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses der Muslime in der Welt der Moderne beigetragen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung zu den islamischen Gesellschaften des subsaharischen Afrikas vor allem auf die Entwicklung der Sufi-Bruderschaften konzentriert, die scheinbar den überwiegenden Teil der muslimischen Bevölkerungen des subsaharischen Afrika repräsentieren. Muslimische Reformbewegungen, die sich häufig dadurch auszeichnen, daß sie die etablierten Sufi-Bruderschaften angriffen und islamische lokale Traditionen als unislamische Verirrungen kritisierten, wurden in der Forschung aber häufig nur aus einer politikwissenschaftlichen Forschungsperspektive als „radikale islamistische Bewegungen“ wahrgenommen. Von einigen Ausnahmen abgesehen (Brigaglia 2005; Desplat 2005; Gomez-Perez 1999; LeBlanc 2000; Loimeier 2001, 2003, 2005; Miran 2007, Villalon 1995, Tayob 1999) wurden die Bemühungen muslimischer Reformer, die Moderne im Alltagsleben ihrer jeweiligen Gesellschaften zu verhandeln und zu verankern, übergangen. Dabei wurde das Thema „Reform“ selbst in Hinblick auf entsprechende Debatten in Nordafrika und Westasien ausführlich diskutiert. Muslimische Reformbewegungen haben jedoch auch im subsaharischen Afrika wachsenden Einfluß. In Nigeria haben sich die `Yan Izala seit den späten 1970er Jahren zur größten islamischem Reformbewegung des subsaharischen Afrika entwickelt; in Senegal hat es die jamāÝat ÝibāÃ al-raÎmān vermocht, sich in der Hauptstadtregion Cap Vert zu verankern; in Tansania haben die unterschiedlichen Gruppen der anÒār al-sunna begonnen, neue Formen islamischer Erziehung zupropagieren und zudem den Kampf gegen die Pfingstkirchen aufgenommen. Überall haben islamische Reformbewegungen die etablierten Sufi-Bruderschaften gezwungen, mit eigenen Reformbemühungen auf die Bildungs- und Sozialprogramme der Reformer zu antworten. Auf Grund der Tatsache, daß die muslimischen Reformbewegungen in den unterschiedlichen Ländern des subsaharischen Afrika heute die unterschiedlichsten Erscheinungsformen angenommen haben, stallt sich die Frage, was „Reform“ im lokalen Kontext und im Alltagsleben der Muslime eigentlich bedeutet.
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