Auf der Suche nach der Welt zwischen Ägypten und Europa: Fantasie, Frustration und literarisches Schreiben nach 2011
Dr. Samuli Schielke
Eine besonders widersprüchliche Folge des jüngeren Globalisierungsprozesses ist die Herausbildung einer großen Zahl von Menschen weltweit, die Vorstellungen und Versprechen von globalem Ausmaß ernst nehmen und sich als Teil einer größeren Welt wahrnehmen. Doch haben sie oft nur einen sehr begrenzten Zugang zu der Mobilität, zu den Bildungswegen, oder zu den finanziellen Mitteln, die herkömmlich mit dem Begriff des Kosmopolitismus assoziiert werden.
Diese Erfahrung prägt auch das Leben vieler junger Ägypter. Für sie stellt sich Migration nach Europa - das bevorzugte Ziel ägyptischer Migranten und der paradigmatische Ort der Moderne - als der Königsweg zur Verwirklichung des großen Traums (hilm) der sozialen Mobilität vorbei an den Grenzen von Klasse und Familienbeziehungen. Europa ist für die meisten Ägyptern nur schwer erreichbar, aber täglich präsent in den Medien, im Lebensstil der wohlhabenden Ägypter und in der allgegenwärtigen Vorstellung vom Land der Träume jenseits des Mittelmeers. Auf einer imaginativen Ebene beinhalten die Erfahrungen dieser Menschen mit der Welt viele der Unsicherheiten und Ungewissheiten kosmopolitischen Erlebens, sei es in Form von Träumen und Plänen zur Migration, in Form von Konsum von Musik, Film, Mode oder Sport, oder in Form von Versuchen, sich in neue gehobene Milieus zu begeben. Anders als andere Beschreibungen des Kosmopolitischen sind diese Erfahrungen aber charakterisiert von einer starken Frustration und einer quälenden alltäglichen Langeweile im Angesicht eines besseren, größeren Lebens anderswo.
Doch was aus einer globalen Perspektive wie Immobilität aussehen mag, verbirgt in Wirklichkeit meistens eine Beweglichkeit in einem näheren Umkreis. Auch die frustrierten jungen Ägypter, die oft vergebens auf ihre große Chance warten, suchen zugleich nach verschiedenen Wegen, ihrem Leben Inhalt und Richtung zu geben. Diese Suche nimmt oft die kreative Form der Fantasie an, sei es in unwahrscheinlichen Plänen um an Geld oder Visum zu kommen, oder in einem spielerischen Umgang mit globalen Medien, die zu Quelle von neuen Ideen über das Menschsein, über Liebe und über die eigene Zukunft gemacht werden.
Ausgangspunkte dieser ethnografisch ausgerichteten Forschung werden ein Dorf und eine große Stadt (Alexandria) im nördlichen Ägypten sein, wo Schielke in Zusammenarbeit mit jungen Ägyptern der Frage nach kreativen Auseinandersetzungen im Bereich der Lebensplanung und der weit verbreiteten Amateurkultur von Musik, Schauspielen und Schreiben nachgeht. Da einige der Informanten Schielkes inzwischen schon ausgewandert sind und es zu erwarten ist, dass einige weitere auch auswandern werden, wird er im Laufe der Forschung zunehmend auch den Wandel der Träume in Folge der Erfahrung der Migration problematisieren. Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, ob und inwieweit solche Träume einen realen Bereich der Handlungsfreiheit bieten, und inwieweit sie vielleicht sogar den Druck des Unausweichlichen erhöhen. Vielleicht sind aber die besonders unrealistischen Träume und Fantasien die erfolgreichsten, gerade weil ihre offensichtliche Unverwirklichbarkeit schmale Bereiche der Kontingenz in einem von Unausweichlichkeiten geprägten Leben öffnen kann.
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